Sitzungsprotokoll zur 7. Sitzung – 5.12.2016: Nietzsches „Genealogie der Moral“
Autorinnen: Schuana Amirova, Sophia Heuer
1. Die Genese der Moral
Was als „gut“ oder „schlecht“ definiert wird, begründet Nietzsche ausgehend von der Entstehung der Moral. Daraus erschließt sich die Frage, wie sich die Moral genealogisch rekonstruieren lässt. Unter welchen Bedingungen erfand der Mensch sich die Werte gut und böse? Nach Nietzsche werden bei dieser Fragestellung psychologisches, philologisches bzw. etymologisches oder physiologisches bzw. medizinisches Denken herangezogen.
Die primäre Frage in der Diskussion war vor allem, wie sich Genese und Geltung der Moral zueinander verhalten. Wir haben dann zwei Möglichkeiten erkannt. Die erste Möglichkeit ist diejenige, dass die Genese die Geltung bedingt, dass beispielsweise die Geschichte der Gesellschaft eine Moral konstituiert und sie gleichzeitig begründet. Eine weitere Möglichkeit ist diejenige, dass die Moral und die Moralvorstellung an sich da ist, bevor sie von der Gesellschaft konstituiert ist oder erkannt wird. Ein Beispiel dafür wäre der kategorischen Imperativ bei Kant. Es lässt sich also feststellen, dass Nietzsche einen künstlichen Moralbegriff hat, der einer Praxis gleicht und regelmäßig kultiviert werden muss und die kantische Auffassung von Moral genau umgekehrt ansetzt. Nach Nietzsche lässt sich nun zusammenfassen, dass die Genese und Geltung sich nicht unbedingt widersprechen, sondern dass die Genese – als die Entstehung der Moral – ihre Geltung rechtfertigt. Aus diesen Prämissen entstehen weitere Fragen, nämlich ob dieser Moralbegriff adäquat ist. Auf den ersten Blick erscheint dies zurecht eine beschränkte und reduzierte Definition der Moral zu sein, denn es ist problematisch, das Gute rein aus der Aristokratie zu begründen:
„das Urtheil „gut“ rührt nicht von Denen her, welchen „Güte“ erwiesen wird! Vielmehr sind es „die Guten“ selber gewesen, das heisst die Vornehmen, Mächtigen, Höhergestellten und Hochgesinnten, welche sich selbst und ihr Thun als gut, nämlich als ersten Ranges empfanden und ansetzten, im Gegensatz zu allem Niedrigen, Niedrig-Gesinnten, Gemeinen und Pöbelhaften. […]“ (KSA 6, S. 259).
Auf der anderen Seite, kann man Nietzsche als einen „Humanisten“ interpretieren, der sich die Freiheit nimmt, die Moral aus sich selbst zu definieren. Das Individuum, das über sich selbst herrscht, eine gesunde Haltung zu sich selbst und der Welt pflegt, im reinen mit sich selbst ist und diese Harmonie und Ausgeglichenheit in Form von habituellen Praxis nach außen trägt, die letztlich gut und moralisch ist.
2. Herren-Moral und Sklaven-Moral
In dem Gegensatz des Hochgesinnten zu allem Niedrigen, Gemeinen und Pöbelhaften, nämlich dem „Pathos der Vornehmheit und Distanz“(259), setzten erstere ihr eigenes Tun als gut. Dieses in ihrem Wesen verankerte „Gute“ begründet ihr Recht, Werte zu schaffen, und zwar auf die Weise eines „heißen Herausquellens“, unabhängig von konkreten Konsequenzen, gleichsam natürlich und eruptiv.
Während sich auf diese aktive Art die authentische, den Blick aufs Innere richtende Herren-Moral und der ihr eigene, im Pathos der Distanz ursprünglich begründet liegende Gegensatz von „gut“ und „schlecht“ konzipiert, vollzieht sich in der Sklaven-Moral immer nur Reaktion und Ressentiment.
Die Sklaven-Moral, oder die Moral des Ressentiments, macht eine Umkehrung des „wertsetzenden Blicks“ nach Außen, statt zurück auf sich selber. Als wertschaffendes Motiv des Ressentiments nennt Nietzsche den „Hass der Ohnmacht“(267), ein psychologisches Motiv, durch das begründet wird, warum das Ressentiment seinem Wesen nach immer Reaktion ist.
Als Protagonisten der Moral des Ressentiments sieht Nietzsche die Juden, – angemerkt sei, dass Nietzsche damit die jüdisch-christliche Tradition meint, die in diesem Zusammenhang synonym mit dem „Gott der Armen“ ist, – denn die Werteordnung, nach der allein die Armen, Ohnmächtigen, Hässlichen, Leidenden, etc. die Gottseligen und Guten sind, steht konträr zur Moral der Herren.
Die Herren-Moral hat bereits aus sich selbst den Begriff des Guten, von dem ausgehend die Vorstellung vom „Schlechten“ sich konzipiert, allerdings habe dieses die Eigenschaft einer Komplementärfarbe, während das „böse“ der Sklaven-Moral den Charakter der eigentlichen „That in der Conception einer Sklaven-Moral“ (274) hat und begrifflich den „Guten“ der anderen Moral, den Vornehmen, den Mächtigen umfasst.
Für die Annahme einer Form von Normativität in Nietzsches Theorie ist zunächst grundlegend davon auszugehen, dass Genese Geltung bedingt, dass bestimmte Faktoren in der Entstehung von Moral entscheidend für ihren Wert oder Unwert sind.
Aus der genealogischen Betrachtung der Herren-Moral folgen deren wesentliche Eigenschaften, nämlich dass, – sich selbst und ihr Tun als gut angesetzt, den Gegensatz im „gemeinen“, „schlechten“ nennend-, sie sich mit diesem Pathos der Distanz ein Recht, Werte zu schaffen und auszuprägen genommen hat.
Ein „heißes Herausquellen“ (259) nennt Nietzsche das Schaffen von authentischen Werten, das eruptive, aktive, nicht-reaktive Schaffen dem Guten und Richtigen (griechisch „agathos“), namentlich die Aristokraten, die ihrer Eigenschaft nach elitär, selbstbewusst und aufrichtig handeln mit dem wertsetzenden Blick auf ihr Inneres gerichtet. Die Authentizität der Werte sieht Nietzsche durch diesen Blick begründet, denn er sieht im Inneren das Gute und Richtige, frei von anderen Gesichtspunkten wie der Nützlichkeit.
Im Falle der Sklaven-Moral, deren Genese wesentlich als Reaktion stattfindet, vom Hass der Ohnmacht geleitet, den wertsetzenden Blick nach Außen statt Innen umkehrend, ist die Verneinung des Außerhalb ihre einzige schöpferische Tat. Die Möglichkeit zur wertschöpfenden Tat aus der Haltung des Ressentiments ist stets Abhängigkeit und beschränkt auf den wertsetzenden Blick nach außen.
Eine normative Aussage der genealogischen Betrachtung lässt sich entnehmen, sofern die Geltung, sowohl der Sklaven-, als auch der Herren-Moral, vor dem Hintergrund ihrer unterschiedlichen Haltungen beurteilt wird.
Die wertschaffende Handlung der aristokratischen Moral geschieht aus einer schöpferisch-aktiven Haltung herausquellend, durch den Blick auf das Innere, das Gute und Richtige, das authentisch in ihrem aristokratischen Wesen begründet liegt. Dem aristokratischen Ideal, „dem triumphierenden Ja-Sagen zu sich selbst“, liegt eine Einheit von Denken und Handeln zugrunde, die Spontaneität der aktiv schaffenden Haltung ist Ausdruck einer untrennbaren Verbundenheit aus Apollinischem und Dionysischen, aus Rationalität und Natürlichem.
Sehr schön herausgearbeitet ist gleich zu Anfang die Gegenüberstellung von „Genese“ und „Geltung“ und die Frage, ob die Geltung einer Moral durch ihre Genese zu rechtfertigen ist. Vielleicht sollte man diese Begriffe dabei auch noch einmal deutlicher in den Zusammenhang von „Sein“ und „Sollen“ stellen (als Thema des Seminars). Wo ist das „Sein“ bei Nietzsche? In Nietzsches Entwurf löst ein „Sollen“ – die Herrenmoral – ein anderes „Sollen“ – die Sklavenmoral ab. Das Recht zu Herrenmoral wird genommen, aber es ist nicht „an sich“ schon vorhanden. Hume und Kant hatten ihre Moralvorstellungen vor dem Hintergrund ihrer Erkenntnistheorien entwickelt. Diese Verknüpfung scheint bei Nietzsche zu fehlen. Auf welcher Grundlage lässt sich dann die Herrenmoral rechtfertigen? Ist in der wertschaffenden Handlung des „aristokratischen Subjekts“ Nietzsches „Sein“ versteckt?
Das Protokoll beantwortet in sehr klaren Worten, sowohl verständlich und aussagekräftig formuliert, als auch vollständig in der Wiedergabe, zwei (1. & 3.) der uns zur Verfügung gestellten Leit-fragen, und erläutert und entfaltet uns so, sowohl die Genese für moralische Normen (Genealogie der Moral) so wie sie Friedrich Nietzsche postuliert hatte, als auch das, von ihm dafür ausgewählte Unterscheidungskriterium (Herrenmoral vs. Sklavenmoral). => Danke Sophia, für diese sehr gelungene Zusammenfassung!
Nachdem Sophia uns sehr präzise dargestellt hat, wie Friedrich Nietzsche, sich die Entstehung und die Begründung von Moral auf dem Papier vorstellt, möchte ich nun gern unter zu Hilfenahme der zwei anderen Reflexions-fragen, eine spekulative Brücke in die Anwendung schlagen und somit (losgelöst vom Protokoll), den universellen Geltungsanspruch dieser >ganz besonderen Art „Was gibt uns hinreichende Gründe dafür, um dieser von Friedrich Nietzsche postulierten Unterscheidung zwischen der Herren- und der Sklavenmoral, auch in unserer Gegenwart noch universellen Geltungsanspruch einzuräumen?“
Ein paar Gedanken dazu von Wikipedia.
1. Werte und Werteordnungen:
„Werte sind erstrebenswerte Zustände, bzw. Ziele, die sich eine Gesellschaft setzt, um das Zusammenleben sinnvoll zu regeln, respektive zu sichern. Die Gesellschaft definiert diese Werte nur allgemein, konkret äußern sie sich in Normen.
Bsp: Die Versorgung von Kranken und Alten ist ein Wert der westlichen Gesellschaften. (Weitere Beispiele: Meinungsfreiheit, Sicherung eines Überlebensminimums)
Werte werden an gesellschaftliche Organisationen (Krankenhäuser) delegiert (übertragen), damit diese sie mittels Normen in die Wirklichkeit umsetzen.“
2. Normen und Normenordnungen:
„Normen sind genaue Verhaltensweisen zusammengefasster Werte – einfach gesagt: Verhaltensregeln in Form von Gesetzen. Diese Gesetze müssen nicht schriftlich fixiert werden. Dazu gehören auch Verhaltenserwartungen, welche als „gute Sitten“ erachtet werden.
Eine Norm dient somit dem Zweck, eine bestimmte Verhaltensweise in einer bestimmten Situation hervorzurufen.“
3. Kriterien für die Sittlichkeit von Normen:
„Eine sittliche Norm setzt dem Handeln Wertmaßstäbe, z. B. „Behandle deinen Mitmenschen so, wie du selbst behandelt werden willst“ (Goldene Regel). Für mündige Menschen gewinnen Handlungsnormen nicht schon dadurch Gültigkeit, dass sie gegeben sind, sondern ihr Verpflichtungscharakter ergibt sich nach verantwortlicher Prüfung. Eine Norm, die nicht auf einem Wert gründet, hat keine sittliche Bindekraft.“
4. Zwei Artikel, aus dem „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG, v. 23. Mai 1949)“
4.a. – Artikel 1 –
1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.
4.b. – Artikel 3 –
(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
5. Eine unparteiische Wertereferenz:
– Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika (July, 4th, 1776) –
“We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness. — That to secure these rights, Governments are instituted among Men, deriving their just powers from the consent of the governed, — That whenever any Form of Government becomes destructive of these ends, it is the Right of the People to alter or to abolish it, and to institute new Government, laying its foundation on such principles and organizing its powers in such form, as to them shall seem most likely to effect their Safety and Happiness. Prudence, indeed, will dictate that Governments long established should not be changed for light and transient causes; and accordingly all experience hath shewn that mankind are more disposed to suffer, while evils are sufferable than to right themselves by abolishing the forms to which they are accustomed. But when a long train of abuses and usurpations, pursuing invariably the same Object evinces a design to reduce them under absolute Despotism, it is their right, it is their duty, to throw off such Government, and to provide new Guards for their future security.”
Das Protokoll ist sehr gut gelungen. Die Struktur ist sinnvoll und deutlich. Alle eingeführten Themen werden mit dem nötigen Tiefgang ausreichend beantwortet. In Verbindung mit unseren Aufzeichnungen der Sitzung ist es hiermit sehr gut möglich, sich knapp und trotzdem tiefgründig in das Thema einzuarbeiten. Ich persönlich bin kein großer Freund Nietzsches‘ Theorien, daher war es umso erfreulicher zu erfahren, wie viel Spaß es mir bereitet hat, das Protokoll zu lesen und mich einmal mehr mit diesen philosophischen Ansätzen auseinanderzusetzen. Vielen Dank!
Vielen Dank für diese strukturell ansprechend gestaltete und inhaltlich gut aufgearbeitete Zusammenfassung. Tatsächlich habe ich auch Probleme bei dem Verständnis Dialektik von Herren- und Sklavenmoral. Ich finde es schwierig sie als übergeordnete Kategorien ohne Mischformen oder Unterschiede auf den verschiedenen Ebenen des (Zusammen-)Lebens zu betrachten. Auch scheint diese Unterscheidung ein äußerst dynamisches Konstrukt zu sein, das im jeweiligen historischen Kontext vielleicht klar definierbar ist, aber aus einer späteren Perspektive eine konträre Einteilung ermöglicht. Sein und Sollen sind dadurch fluktuierend.
Vielleicht kann mir jemand helfen: Als (zugegeben abstraktes) Beispiel kam mir nun Robin Hood – an und für sich tut er Unrecht, wenn er stiehlt. Durch das Geben an die Armen und Bedürftigen wird seine Tat aber als moralisch gut und vertretbar angesehen. Ist er nun ein Herr oder ein Sklave?
Wenn die Sklavenmoral die Ableitung der Herrenmoral ist, dann wäre Robin Hood ja ein Sklave. Seine Tat vollzieht sich als Aufbegehren gegen die Reichen und gründet auf Unzufriedenheit der Sklavenklasse. Aber seine Tat wird heute als edelmütig / vornehm rezipiert. Wie würde Nietzsche hier argumentieren?