Sitzungsprotokoll zur 6. Sitzung – 28.11.2016: Kants „Faktum der Vernunft“

1. Das Problem des „Faktums der Vernunft“

Kants Rede vom „Faktum der Vernunft“ kann auf zwei verschiedene Arten verstanden werden.

  • Einerseits als genitivus subjectivus,
  • andererseits als genitivus objectivus.

Unter dem genitivus subjectivus ist gemeint, dass die Vernunft etwas Faktisches bzw. Wirkliches erzeugt beziehungsweise dass das Faktum der Vernunft gehört. Unter dem genitivus objectivus ist zu verstehen, dass die Vernunft selbst faktisch und wirklich ist. „Vernunft“ meint dabei immer die Moralität oder auch das unbedingte Sollen. Welchen dieser Begriffe Kant meint, ist in der Kant-Forschung umstritten. Jedenfalls betrifft Kants Rede vom „Faktum der Vernunft“ das Problem des Verhältnisses von Sein und Sollen.

2. Was versteht Kant unter einer „Kritik der praktischen Vernunft“?

Unter „Kritik“ versteht Kant eine Analyse des menschlichen Vermögens. In diesem Falle analysiert Kant die empirische praktische Vernunft und zeigt auf, dass diese rein sein soll. Das steht im Gegensatz zur Kritik der reinen (theoretischen) Vernunft. Dort prüft Kant die reine theoretische Vernunft, die sich keiner Empirie bedient und erklärt, dass diese Empirie benötigt, um zu Erkenntnissen zu gelangen, da sonst „transzendente“ Fehlschüsse auftreten. Diese beiden Analysen sind also gegenläufig. Die empirische praktische Vernunft entspricht hierbei dem Begriff „slave of passions“ bei Hume. Kant will zeigen, dass reine Vernunft praktische sein kann, d.h. dass sie unabhängig von Neigungen („passions“) den menschlichen Willen bestimmen und zur moralischen Handlung motivieren kann.

Kant unterscheidet streng zwischen dem Sein und dem Sollen, jedoch ist dieses Sein und Sollen nicht unüberbrückbar. Das Sein kann man mit der Natur gleichsetzen und diese ist durch Kausalitäten streng vorherbestimmt bzw. determiniert. In der Natur kann es aus diesem Grunde kein Sollen geben. So haben bei Kant Tiere keine Kultur. Es wäre demnach ein Kategorienfehler zu fragen, ob etwa ein Tier ein anderes fressen „darf“ oder „soll“. Das Sollen tritt erst dann auf, wenn man Freiheit unterstellen kann, also erst im Falle des Menschen.

Das Sollen kann man mit der Vernunft gleichsetzen. Diese ist ein übersinnliches Vermögen, etwas, das autonom arbeiten kann und mit der Moralität entstehen kann. Die reine Vernunft erlässt den kategorischen Imperativ, der dadurch gekennzeichnet ist, dass er unbedingt ist. Der hypothetische Imperativ, dem man das bloß natürliche Sein zuordnen kann, ist im Gegensatz dazu bedingt. Während der kategorische Imperativ unbedingt gebietet, gebieten hypothetische Imperative immer unter einer bestimmten, empirisch abhängigen, Bedingung.

Das Ganze lässt sich gut aus dem Galgenbeispiel von Kant herausarbeiten. Das lautet:

„Setzet, daß jemand von seiner wollüstigen Neigung vorgiebt, sie sei, wenn ihm der beliebte Gegenstand und die Gelegenheit dazu vorkämen, für ihn ganz unwiderstehlich: ob, wenn ein Galgen vor dem Hause, da er diese Gelegenheit trifft, aufgerichtet wäre, um ihn sogleich nach genossener Wollust daran zu knüpfen, er alsdann nicht seine Neigung bezwingen würde. Man darf nicht lange rathen, was er antworten würde. Fragt ihn aber, ob, wenn sein Fürst ihm unter Androhung derselben unverzögerten Todesstrafe zumuthete, ein falsches Zeugniß wider einen ehrlichen Mann, den er gerne unter scheinbaren Vorwänden verderben möchte, abzulegen, ob er da, so groß auch seine Liebe zum Leben sein mag, sie wohl zu überwinden für möglich halte. Ob er es thun würde, oder nicht, wird er vielleicht sich nicht getrauen zu versichern; daß es ihm aber möglich sei, muß er ohne Bedenken einräumen. Er urtheilt also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre.“ (KpV, V, 30)

Durch die Vernunft ist die Freiheit gegeben, sich dem Selbsterhaltungstrieb, den man als maximale Natur bezeichnen kann, zu widersetzen. Wir erkennen mit einem Male, dass wir nicht nur durch das Naturgesetz bestimmt sind, sondern uns darüber erheben können, wenn wir moralische Überlegungen tätigen.

3. Wie ist das Verhältnis zwischen der Freiheit und dem Moralgesetz?

Die Freiheit und das Moralgesetz bedingen sich gegenseitig. Die Freiheit ist die ratio essendi (= Seinsgrund) für das Moralgesetz und das Moralgesetz ist die ratio cognoscendi (= Erkenntnisgrund) für die Freiheit. Was heißt das konkret? Wenn es die Freiheit nicht geben würde, würde kein Moralgesetz benötigt werden, da alles determiniert wäre. Durch das Moralgesetz kann der Mensch erst die Freiheit erkennen, da er bemerkt, dass er nicht nur seinen Trieben nachkommen muss, sondern andere, moralische Gründe besitzt, die ihn zu Handlungen motivieren können.

4. Wie verhält sich nach Kant Sein und Sollen?

Kant geht davon aus, dass eine Handlung durch einen Willen gesteuert wird. Dieser Wille hat zwei verschiedene Faktoren, die diesen beeinflussen. Einerseits die Natur / Neigungen / Triebe und andererseits die reine Vernunft. Wie in dem Beispiel mit dem Galgen ist der Mensch aufgrund der Autonomie und Freiheit dazu fähig, sich diesen Neigungen zu widersetzen.

„Es mögen noch so viel Naturgründe sein, die mich zum Wollen antreiben, noch so viel sinnliche Anreize, so können sie nicht das Sollen hervorbringen, sondern nur ein noch lange nicht nothwendiges, sondern jederzeit bedingtes Wollen, dem dagegen das Sollen, das die Vernunft ausspricht, Maß und Ziel, ja Verbot und Ansehen entgegen setzt.“ (KrV, B 575 f.)

Aufgrund des Universalisierungsverfahrens, das auf dem Vernunftsvermögen basiert, kann der Mensch objektiv erkennen, welche seiner Maximen, also Willensprinzipien, moralisch gut oder böse sind. Entscheidend ist dabei die reine Form des Willens. Dieser muss sich widerspruchsfrei verallgemeinern lassen können, ansonsten ist er böse zu nennen.

Kommentare

Dieser Beitrag hat momentan 10 Kommentare

  • Ich finde die Zusammenfassung auch sehr gelungen. Sehr übersichtlich und es wurde kurz das wichtigste genannt.
    Mich hätte nur noch interessiert worin genau die Kausalität und Determination besteht. Dieser Punkt hätte etwas ausführlicher beschrieben werden können.
    Wir hatten ja von einer Kausalitätskette geredet? Warum genau ist bei Kant Natur determiniert?
    Der Unterschied zwischen Sein und Sollen wurde aber eingänglich illustriert.

  • Meiner Meinung nach ist das Sitzungsprotokoll sehr gut lesbar und man kann den Gedankengang gut nachvollziehen. Ich hätte nur noch eine kurze Verständnisfrage. Aus welchem Grund benötigt die reine theoretische Vernunft unbedingt Empirie?

    • Danke für den Kommentar. Die Aussage bezieht sich auf den Erkenntnisgewinn. Ohne die Empirie können Kausalaussagen zu Fehlschlüssen führen. Ohne die Empirie kann rein theoretisch alles gefolgert werden.

  • Auch ich finde die Zusammenfassung sehr gelungen und vor allem gut gegliedert. Das einzige, was sich mir nicht ganz erschließt ist, warum die Freiheit unbedingt aus einem Widerstreit zwischen der Vernunft und einem Trieb entstehen muss. Warum kann es nicht auch eine freie Entscheidung zwischen zwei Trieben geben? Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob der Mensch nach Kant überhaupt erkennen kann, was seine höchste Maxime ist und daher ,ob er gute oder schlechte Entscheidungen trifft, erkennen kann.

  • Die Unterscheidung der zwei Arten „genitivus subjectivus“ und „genitivus objectivus“ halte ich für einen sinnvollen und gelungenen Einstieg in das Thema, welcher das Protokoll sehr gut eröffnet. Der letzte Absatz in Punkt I sollte jedoch meiner Meinung nach etwas ausgebaut werden. Das Verständnis, das Kant der Vernunft zuschreibt, die etwas Faktisches bzw. Wirkliches erzeugt sowie der Vernunft, die selbst faktisch ist, ist nicht nur interessant sondern meines Erachtens relevant für etwaige anschließende Diskussionen. Es wäre außerdem schön gewesen, ein paar konkrete Beispiele für die in der Kant-Forschung vorhandenen, differenzierten Ansichten aufzuzählen.

    Anschließend gewinnt das Protokoll sehr an Tiefe und insbesondere Punkt II und IV sind nicht nur gut gegliedert, sondern auch selbsterklärend. Die mögliche Gleichsetzung des Seins mit der Natur und des Sollens mit der Vernunft wird deutlich eingeführt und bekommt durch das Zitat die nötige Untermalung. Punkt IV dient nicht nur als runder Abschluss der aufgeführten Gedanken, sondern endet mit der Verbindung, dass Handlungen durch einen Willen gesteuert werden, auf hohem Niveau.
    Vielen Dank für das Protokoll.

  • Bei der Thematik der Freiheit bei Kant könnte man noch hinzufügen, dass Autonomie als die Selbstbestimmung durch das moralische Gesetz verstanden wird, durch welche wir Freiheit erlangen. Hier ist zu beachten, dass die individuelle menschliche Freiheit dann eingeschränkt wird, wenn der Mensch fremdbestimmt wird (Heteronomie). „Der Wille ist eine Art von Kausalität lebender Wesen, sofern sie vernünftig sind, und Freiheit würde diejenige Eigenschaft dieser Kausalität sein, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann“ (GMS, S. 446).

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