Kant: Faktum der Vernunft
Faktum (von lat. facere, facio, feci, factum = machen, tun, handeln) bedeutet wörtlich übersetzt „das Gemachte/Getane“. Die Sinngemäße Übersetzung laut Duden: etwas, was tatsächlich, nachweisbar vorhanden, geschehen ist; [unumgängliche] Tatsache.
Im Kantschen Kontext ist die Interpretation des Faktums, vor allem im Zusammenhang mit der Vernunft etwas schwieriger zu deuten. Kants „Faktum der Vernunft“ kann meinen:
- Die Vernunft kann ein Faktum haben/bewirken (genitivus subiectivus)
- Die Vernunft selbst ist ein Faktum (genitivus obiectivus)
In beiden Fällen ist das Faktum der Vernunft jedoch von einem empirischen Faktum, wie etwa einem Gefühl oder einem Sinneseindruck, zu unterscheiden, da das Faktum der Vernunft einen eigenen Sinn hat. Es ist ursprünglich (KpV, V31) – Kant geht nicht weiter auf die Möglichkeit oder den Entstehungsgrund dieses Faktums ein. Er bezieht sich in seinen Ausführungen stets auf das Bewusstsein dieses Faktums. Denn als Akteur macht man sich allein das Bestehen dieses Faktums bewusst, nicht die Möglichkeit dazu oder gar die Begründung dessen.
Es ist noch komplexer: Das Faktum der Vernunft kann als Moment des Bewusstwerdens des Sittengesetzes, oder gar als Sittengesetz selbst gesehen werden. In beiden Fällen aber impliziert das Faktum ein selbstreflexives Moment. Dieses Bewusstsein um das Faktum der Vernunft macht es uns möglich, uns als autonome Wesen zu erfahren. Es befähigt uns moralisch zu handeln und gibt der Moralität erst ihren Sinn: Gäbe es das Bewusstsein nicht, wäre eine Unterscheidung zwischen sittlich richtig und falsch unangebracht. Schließlich fehlte das Wissen um diese Möglichkeiten, um das Sittengesetz überhaupt. Wenn ich nicht wüsste, ob Mord richtig oder falsch ist, würde ich mir auch keine Gedanken darum machen, ob ich richtig oder falsch handle, wenn ich jemanden ermorde. Durch dieses Faktum aber, wissen wir um die Moralität des Sittengesetzes und können durch diese Bedingungen uns dazu entscheiden gesetzesmäßig oder gesetzeswidrig zu handeln.
Die Freiheit ist dabei die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz jedoch die ratio cognescendi der Freiheit. In dem Moment des Bewusstseins des Sittengesetzes begreifen wir also unsere Freiheit im Sinne der Möglichkeit (moralische) Entscheidungen zu treffen und zu handeln. Somit drückt das Faktum auch die unbedingte Verbindlichkeit des Sittengesetzes aus.
Das Faktum der Vernunft ist somit Prämisse für ein moralisches Bewusstsein. Es drängt sich uns auf, ist ein Gesetz a priori, das außerhalb und gefühlt überhalb des einzelnen Akteurs existiert und in ihm wirkt. Aus dem Faktum begründet sich vielmehr auch die Normativität, denn die Moral soll zu einem Naturgesetz der Handlung werden. Das macht sie universell, persistent.
Das Faktum der Vernunft ermöglicht also erst moralisches Handeln, mehr noch: Es beweist, dass die reine praktische Vernunft für sich praktisch sein kann. Die Vernunft kann also ohne auf unreine Bestimmungsgründe (Emotionen, Affekte, Triebe) zurückzugreifen den Menschen zu moralischen Handlungen motivieren.
Weiter ist das Faktum der Vernunft für Kant „unleugbar. Man darf nur das Urtheil zergliedern welches die Menschen über die Gesetzesmäßigkeiten ihrer Handlungen fällen.“ (KpV, V32)
„Faktum der Vernunft“ bedeutet also, dass die reine Vernunft für sich unabhängig von allem Empirischen den Willen bestimmen kann, somit als Gesetz für alle gelten kann und in Folge dessen ist das Faktum die Autonomie im Grundsatze der Sittlichkeit, wodurch die reine Vernunft den Willen zur Tat bestimmt. (ebd.)
Es ist somit einerseits das Bewusstsein des Grundgesetzes und andererseits das moralische Gesetz selbst beziehungsweise die Autonomie. Das moralische Gesetz und die Autonomie sind hierbei als Wechselbegriffe zu verstehen, wohingegen das Bewusstsein des Gesetzes und das Gesetz selbst klar zu unterscheiden sind, denn nur die Faktizität des Gesetzes selbst wäre eine hinreichende Begründung der Moralität.
Bei heiligen Wesen ist der Wille gleich dem Sittengesetz, denn sie vermögen nicht unmoralisch zu handeln – dort wäre ein Bewusstsein des Sittengesetzes nicht notwendig. (Tsuburaya 2006, S. 11)
Schwierig erscheint die Legitimationsgrundlage des Faktums. Da der Ursprung nicht erklärt wird, ist es einfach anzunehmen, aber nicht logisch begründet. Es fehlt die Rechtfertigungsgrundlage, die Kant durch das Ursprüngliche am Faktum umgeht. (Löhrer 2004, S. 12 f.)
Quellenverzeichnis:
- Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft (1788), In: Akademie-Ausgabe (AA), Bd. 5, Berlin 1900 ff.
Literaturverzeichnis:
- Löhrer, Guido (2004): Kants Problem einer Normativität aus reiner Vernunft, in: Gerhard Schönrich (ed.),Normativität und Faktizität. Skeptische und transzendentalphilosophische Positionen im Anschluss an Kant (Gerhard Schönrich / Heinrich Wansing (Hg.), Philosophie und Logik, Bd. 1), Dresden: Thelem, 187-207.
Tsuburaya, Yuji (2006): „Faktum der Vernunft“ als Überwindung des Dualismus in Kants Ethik, in: Annual of Philosophy, Faculty of Humanities, Ausgabe 75 (März 2016), Japan: Kyushu University, S. 1-14.
Interessant wäre hier die Frage, wie Kant durch seinen Begriff eines „Faktums der Vernunft“, welches gerade anhand der Wirklichkeit des Sittengesetzes sichtbar wird (Stichtwort: Galgen-Beispiel) den Übergang von Sein zu sollen (oder vielleicht eher: vom Sollen zum Sein) leisten möchte/kann.
Darüber hinaus kann man das „Faktum der Vernunft“ auch so verstehen, wodurch das Sittengesetz selbst sichtbar wird. Erst durch das Faktum, also Bewusstsein des Sittengesetzes, wird mir bewusst, dass ich sittlich gut handele. Wie oben beschrieben: „Gäbe es das Bewusstsein nicht, wäre eine Unterscheidung zwischen sittlich richtig und falsch unangebracht. Schließlich fehlte das Wissen um diese Möglichkeiten, um das Sittengesetz überhaupt. Wenn ich nicht wüsste, ob Mord richtig oder falsch ist, würde ich mir auch keine Gedanken darum machen, ob ich richtig oder falsch handle, wenn ich jemanden ermorde.“ Also wirken die zwei Begriffe Faktum und Moralgesetz aufeinander ein. Erst durch das Faktum wird mir bewusst, was richtig oder falsch ist und so bin ich autonom und kann entscheiden ob ich richte oder falsch handeln möchte.
Wenn ich die Frage richtig verstanden habe, dann lese ich das Faktum, das Kant noch vor die Freiheit setzt, vor die empirische und intellektuelle Anschauung. (KpV (AA): S. V31) Man könnte es als die Bedingung der Möglichkeit für die Erkenntnis der Freiheit und daher auch Moralgesetz lesen. Den Übergang von Sein und Sollen läge für mich im Bewusstsein. In der Natur ist sich niemand bewusst was er macht oder braucht, Pflanzen und Tiere werfen sich den Affekten und Trieben unter, während nur der Mensch, als vernünftiges Wesen, das Vermögen besitzt ein Bewusstsein in sich zu entwickeln und die Freiheit in sich zu erkennen, um dann nach dem Moralgesetz zu handeln. Vom Sollen auf Sein, könnten die unterbewussten oder unbewussten Reflexionen/ Taten führen.