Nietzsche: Sophisten und Herrenmoral
I.
Während Nietzsche ausgiebig über sein Verhältnis zu Platon und dem platonischen Sokrates geschrieben hat, finden sich Stellungnahmen zu den antiken Sophisten, zumal in seinen veröffentlichten Werken, beinahe gar nicht. Dieses Ungleichgewicht spiegelt sich auch in der Forschung wider, sodass bisher vergleichsweise spärlich zu Nietzsche und den Sophisten publiziert worden ist. Feststeht, dass in Nietzsches Gegnerschaft zu Sokrates und in besonderem Maße zu Platon eine Grundkonstante seines Denkens zu suchen ist, sodass sich der Gedanke aufdrängt, ihn mit den Sophisten zu parallelisieren, deren Lehren oftmals ähnlich antiplatonisch waren. Sätze wie „there is little doubt that some of Nietzsche’s most famous doctrines were inspired by the views expressed by the character Callicles in Plato’s Gorgias“ (Urstad 2010, S. 133) sind daher prima facie einleuchtend. Jedoch haben sie auch heftigen Widerspruch hervorgerufen, beispielsweise in der Formulierung Philippa Foots, „[that] Nietzsche is not at all like Callicles, the immoralist in Plato’s Gorgias, whose ideal is that of the libertine. Nietzsche preaches hardness and self-mastery.” (Foot 1994, S. 7) Noch weiter geht Peter von Kloch-Kornitz, der Nietzsche nicht nur dem Sophisten Kallikles entgegensetzt, sondern ihn auch noch als Verbündeten Platons darstellt. Wie kommt es zu diesen sehr unterschiedlichen Bewertungen?
II.
Platon macht Kallikles im Gorgias zu einem eminenten Vertreter des Rechts des Stärkeren, das auf der Unterscheidung von nomos und physis beruht. Den Maßstab menschlichen Handelns setzt er dabei – anders als sein Gesprächspartner Sokrates – an letzterer an und gibt der Natur damit den Vorrang vor Gesetz und gesellschaftlicher Konvention, was er mit folgenden Worten erläutert: „Allein ich denke, die die Gesetz geben, das sind die Schwachen und der große Haufen. In Beziehung auf sich selbst also und das, was ihnen nutzt, bestimmen sie die Gesetze und das Löbliche, was gelobt, das Tadelhafte, was getadelt werden soll; und um kräftigere Menschen, welche mehr haben könnten, in Furcht zu halten, damit diese nicht mehr haben mögen als sie selbst, sagen sie, es sei hässlich und ungerecht, für sich immer auf mehr auszugehen […].“ (Plat. Gorg. 483b-c) Die Ähnlichkeiten zu den Thesen, die Nietzsche in der ersten Abhandlung seiner Genealogie der Moral aufstellt, sind zu deutlich, um einfach übergangen zu werden. Jedoch ist eine Differenzierung nötig: Einerseits ist der genealogische Grundgedanke – dass moralische Konventionen das „Naturrecht“ des Stärkeren beschneiden und von den Schwächeren gewissermaßen als Selbstschutz eingeführt worden sind – abgesehen von der Kürze und Rohheit der Darstellung bei Kallikles im Unterschied zu der schon etwas differenzierteren Theorie bei Nietzsche derselbe. So spricht dieser in der ersten Abhandlung der Genealogie der Moral beispielsweise von einem „Sklavenaufstand in der Moral“ (GM I, 7 und v.a. 10), durch welchen das Schwächere zum Besseren und das Stärkere zum Schlechteren erhoben worden sei, was wenigstens der Form nach Kallikles‘ Gegenüberstellung von physis und nomos entspricht. Ob aber andererseits Nietzsche auch den physis-Begriff teilt, ist fraglich: Für Kallikles besteht das gute Leben in Reichtum, Ruhm und Genuss (vgl. z.B. Plat. Gorg. 486c-d), und in eine ähnliche Richtung wird häufig auch die Konzeption des Übermenschen und der Herrenmoral gedeutet. Bereits im obigen Zitat von Philippa Foot wird aber Kritik an dieser Darstellung geübt; Kloch-Kornitz 1963 spricht verschärfend sogar von der „Hochschätzung der ‚vita contemplativa‘“ bei Nietzsche nicht weniger als bei Platon. Angesichts der Polemik Nietzsches gegen die asketischen Ideale, beispielsweise in der dritten Abhandlung der Genealogie der Moral, ist dies freilich eine nicht sofort einleuchtende Position – die aber gerade auch deswegen geprüft zu werden braucht, da sein Werk zeit seiner Rezeption nicht selten Opfer einseitiger Auslegung (als Nihilist, Immoralist, Hedonist, usf.) wurde.
III.
Wie also wäre weiter vorzugehen? Nietzsche hat in seiner Basler Professorenzeit diverse Vorlesungen zu antiken Philosophen und den platonischen Dialogen gehalten, auch zum Gorgias. Neben der Untersuchung dieser Schriften müssten auch seine Hauptwerke auf die vereinzelten, einschlägigen Erwähnungen abgesucht werden, die Aufschluss über sein Verhältnis zu Sophisten wie Kallikles und Polos geben. Darüber hinaus hat sich oben ergeben, dass ein weiterer Schwerpunkt auf den umstrittenen Konzeptionen „Übermensch“ und „Herrenmoral“ liegen müsste, um Nietzsches Vorstellung des „natürlichen Zustandes“ mit dem physis-Gedanken des Kallikles zu vergleichen. Dies erreicht, wäre aber zugleich einiges über das Verhältnis von Nietzsche und Platon gesagt, da Kallikles‘ Positionen in Auseinandersetzung mit dem platonischen Sokrates literarisch entwickelt werden.
Literaturverzeichnis
- Foot, Philippa: Nietzsche’s Immoralism. In: Schacht, Richard (ed.): Nietzsche, Genealogy, Morality. Essays on Nietzsche’s Genealogy of Morals, Berkeley/Los Angeles/London 1994, pp. 3 – 14.
- Kloch-Kornitz, Peter von: Der „Gorgias“ Platons und die Philosophie Friedrich Nietzsches. In: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 17/4 (1963), S. 585 – 603.
- Urstad, Kristian: Nietzsche and Callicles on Happiness, Pleasure, and Power. In: Kritike Vol. 4/2 (2010), pp. 133 – 141.
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