Jonas: Die Selbstbejahung des Lebens
Die Ethik der Verantwortung, die Hans Jonas entwickelt hat, misst dem Leben einen besonderen Wert zu, durch den die Forderung zum Erhalt der Lebewesen und der Natur im Ganzen nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für künftige Generationen abgeleitet wird. Um die Argumentation dieser Ethik zu verstehen, ist es unerlässlich, sich über Jonas` Theorie des Lebens klar zu werden. Wodurch Leben für Hans Jonas gekennzeichnet ist, werde ich anhand von Textauszügen aus seinem späten Hauptwerk Das Prinzip Verantwortung, wo Leben als eine besondere Form des Seins explizit gemacht wird, sowie aus seiner Schrift Der Organismus als Freiheit, wo Leben als Form und Organismus beschrieben wird, erörtern.
Jonas möchte seine Ethik ontologisch begründen, d.h. das „Gute“ oder einen „Wert“ aus dem Sein ableiten: „An-sich-Sein des Guten oder Wertes heißt aber, zum Bestand des Seins zu gehören […], womit Axiologie ein Teil der Ontologie wird.“[1] Was Jonas unter „Sein“ versteht, muss in diesem Zusammenhang jedoch weiter eingegrenzt werden, um seine These verständlich zu machen. Jonas unterscheidet ein „indifferentes Sein“, „als deren absolute Form wir das Nichts ansehen können“[2], von einem Sein – für Jonas ist es das Lebendige – mit der Fähigkeit, sich Zwecke zu setzen. In der Zweckhaftigkeit liegt der besondere ontologische Charakter dieses Seins.[3] In der Fähigkeit, sich selbst Zwecke zu setzen, was eine gewisse Autonomie und Freiheit impliziert, sieht Jonas ein „Gut-an-sich“, das „aller Zwecklosigkeit des Seins unendlich überlegen ist.“[4] Diese Überlegenheit des Zweckhaften ist für Jonas selbstevident, auch wenn er sich nicht sicher ist, ob sein Satz analytisch oder synthetisch ist.[5] Doch wenn man den Satz gelten lässt und in der Zweckhaftigkeit eines Seins ein „Gut-an-sich“ begründet ist, dann lässt sich daraus aus diesem Sein auch ein Sollen ableiten, eine Normativität, nämlich dass dieses lebendige Sein zu erhalten und zu schützen ist. Und eben dies ist ja das eingangs erwähnte Ziel von Jonas` Ethik.
Doch was ist dieses Sein, das sich Zwecke setzen kann und sich selbst bejaht? Heidegger hat den Begriff des Daseins geprägt als dem Seienden, dem es „in seinem Sein um dieses Sein selbst geht“[6], doch lag bei ihm die menschliche Existenz im Fokus der Betrachtungen. Für Hans Jonas ist das Sein, „dem es um etwas geht“[7], alles organische Leben. Bloße Materie, das Unbelebte, sei in seiner Sinnlosigkeit eine Form des Nichts.[8] Leben ist ein Sein, das stets vom Nichtsein, von seiner Auslöschung – dem Tod – bedroht ist.[9] Es erhält sich selbst durch beständige Aktivität, durch ein Streben, das gegen das eigene Nichtsein gerichtet ist. Dabei ist organisches Leben im Sinne der gesamten Natur mit ihrer Vielfalt der Lebensformen und mit ihren Wandlungen und Entwicklungen über die Jahrtausende und Jahrmillionen vom individuellen Lebewesen zu unterscheiden. Der Preis des Strebens in der Natur in ihrer Entwicklungsgeschichte ist die Vernichtung bestimmter Lebensformen und Individuen zugunsten anderer.[10] Das einzelne Lebewesen erfüllt somit einen Zweck im Prozess der generischen Entwicklung der Natur im Ganzen. Doch dass Leben auch einen Zweck nicht nur für die Entwicklung der Natur, sondern an sich selbst hat, zeigt sich deutlicher am individuellen Lebewesen. In ihm werde die „Selbstbejahung des Seins emphatisch“[11] angesichts der Bedrohung durch den Tod. Leben heißt Wahl seiner selbst gegen das Nichtsein. Damit ist es Zweck an sich selbst, „sein eigener Zweck“.[12] Ein lebender Organismus erhält sich nur durch seinen Stoffwechsel, durch die Wechselwirkung mit der Welt, darin zeige sich seine „Bedürftigkeit“.[13]
„Das Leben ist sterblich, nicht obwohl, sondern weil es Leben ist.“[14] Dadurch unterscheidet es sich von Materie, aus der zwar ein Lebewesen besteht, dessen Wesen aber etwas anderes ist. Das zum „Wesenscharakter des Lebens“ Gehörende nennt Jonas „Form“ im Gegensatz zum „Stoff“.[15] Stoff (Materie), für sich selbst genommen, ist stets identisch mit sich selbst, ist seine eigene „Substanz“, nichts anderes, nichts darüber Hinausgehendes. Für einen lebenden Organismus bedeutet Stoff nur ein „Substrat“[16], eine – zwar notwendige – Grundlage, aus der er zusammengesetzt ist, doch er „ist“ in seinem Wesen etwas anderes, er ist nicht mit dem Stoff identisch.
„Das lebendige Wesen, das als eine bestimmte Agglomeration von Materie da ist, ist mit eben dieser Materie, d. h. dem Stoffe, aus dem es besteht, nicht identisch und mit dessen Identität nicht verhaftet, sondern ist organisierende Form, die sich zum Zweck hat und ihrem stofflichen Bestande gegenüber in dem Grade selbständig ist, daß sie ihn fortwährend wechselt, ja nur durch diesen Wechsel überhaupt sich in ihrer eigenen Identität erhält. Mit diesem wunderbaren Tatbestand ist ein Prinzip in die Welt getreten, beispiellos in der physikalischen Welt der bloßen Materie.“ [17]
Jonas betont das Dynamische alles Lebendigen. Durch seinen Stoffwechsel findet im Organismus ständig ein Austausch von Materie statt, doch ändert sich dadurch nicht seine Identität. Die Zellen im Körper eines Lebewesens wandeln sich ständig, Zellen sterben ab, neue werden gebildet, ohne dass wir sagen würden, es sei nicht mehr dasselbe Lebewesen. Leben ist an diesen Prozess, an die „Zeitlichkeit“[18] gebunden und kann nicht still stehen, ohne dass es dann aufhören würde Leben zu sein. Darin, dass sich Leben von der Identität des materiellen Stoffes, durch den es hervorgebracht wurde, absetzt, sich „emanzipiert“, sieht Jonas ein Prinzip der Freiheit:
„Emanzipation der Form von der unmittelbaren Identität mit dem Stoffe, Emanzipation von der fixen Selbstidentität des Stoffes, dynamische Eigenwirklichkeit der Form im Stoff und gegenüber dem Stoff: Ein Prinzip der Freiheit leuchtet zum ersten Mal in der ungeheuren Gebundenheit, Insich-Verhaftetheit der physischen Welt auf, in den blinden Regungen urzeitlicher organischer Substanz, eine Freiheit, die Sonnen, Planeten und Atomen fremd ist – und ihre ursprüngliche elementare Äußerung ist der Stoffwechsel.“[19]
In der neuen Seinsform „Leben“ sieht Jonas eine „ontologische Revolution“.[20] Das bloß vorhandene stoffliche Sein, das indifferent ist, bloßes An-sich-Sein ist, wird zu einem Sein, das sich laufend selbst schafft und erneuert.[21] Und darin besteht seine Freiheit. Noch der primitivsten Lebensform, man denke z.B. an Mikroben, spricht Jonas im Gegensatz zum bloß Stofflichen einen Grad an Freiheit zu, sieht aber in der evolutionären Entwicklung zu immer komplexeren Lebewesen durchaus eine Zunahme der Freiheit.[22] Er macht dies deutlich am Begriff einer „objektiv wachsenden Ausprägung von Individualität in den aufsteigenden Lebensstufen“, die im Menschen seine volle Verwirklichung finde.[23] Er nennt diese Individualität eine „charakterologische“ im Gegensatz zur rein ontologischen. Denn ontologisch betrachtet seien ein Pantoffeltierchen oder auch ein Baum ebenso Individuen wie ein Mensch.[24]
Wie der Übergang von Materie zum Leben und damit zur Freiheit und auch zur Fähigkeit, Empfindungen, Wahrnehmungen und letztlich auch Bewusstsein zu haben, zu erklären ist, bleibt auch für Jonas dunkel: „Das Werdegeheimnis ist uns unzugänglich.“[25] Und doch spricht er die Hypothese aus, dass möglicherweise das Prinzip dieses Übergangs eine „Tendenz in den Tiefen des Seins selber war.“[26] Damit stellt Jonas die Vermutung an, dass sogar in der „indifferent“ scheinenden Materie etwas angelegt sein könnte, das nicht nur Leben ermöglicht, sondern Leben erstrebt. In der Natur sieht Jonas einen Werdeprozess, eine gewisse Gerichtetheit, bei dem es um den Fortbestand und Erhalt des Systems geht.[27] Jonas versteht darunter aber keine Teleologie. Vielmehr sieht er in der in der Zweckgerichtetheit des Lebens, sich selbst zu erhalten, eine Form der Freiheit, die er einem Determinismus der unbelebten Natur (Materie) gegenüberstellt. Mit seiner Theorie des Lebens scheint Jonas den Dualismus zwischen Geist (Zwecke setzender Vernunft) und Natur (determiniert gedacht), Freiheit und Notwendigkeit überwinden zu wollen.[28] Ob das gelungen ist, kann im Rahmen dieses Beitrags nicht geklärt werden.
Literaturverzeichnis:
Quellentexte:
Heidegger, Martin: Sein und Zeit, 17. Aufl., Tübingen 1993.
Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1984.
Jonas, Hans: Organismus als Freiheit. In: Ders.: Kritische Gesamtausgabe der Werke, Abt. II Vorlesungen II/3: Leben und Organismus. Hrsg. v. Dietrich Böhler/Walter Ch. Zimmerli. Darmstadt 2016, S. 559-582.
Forschungsliteratur:
Angleys, Nora: Organismus als Stoffwechsel und als System. Die Kontaktpunkte von Jonas und Kant. In: www.blogseminar.net: Philosophische Theorien des Lebens. Publiziert am 2. Oktober 2016. Zugriff: 30.01.2017.
[1] Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1984, S. 153.
[2] Ebd., S. 156.
[3] Ebd., S.154.
[4] Ebd.
[5] Ebd.
[6] Martin Heidegger: Sein und Zeit, 17. Aufl., Tübingen 1993, S. 12.
[7] Jonas: Das Prinzip Verantwortung, S.156.
[8] Ebd.
[9] Ebd., S. 157.
[10] Ebd., S. 156.
[11] Ebd., S. 157.
[12] Ebd.
[13] Ebd.
[14] Hans Jonas: Organismus als Freiheit. In: Ders.: Kritische Gesamtausgabe der Werke, Abt. II Vorlesungen II/3: Leben und Organismus. Hrsg. v. Dietrich Böhler/Walter Ch. Zimmerli. Darmstadt 2016, S. 559-582, hier S. 573.
[15] Ebd., S. 565.
[16] Ebd.
[17] Ebd., S. 563.
[18] Ebd., S. 567.
[19] Ebd., S. 568.
[20] Ebd., S. 567.
[21] Ebd., S. 565.
[22] Ebd., S. 569.
[23] Ebd., S. 577.
[24] Ebd.
[25] Ebd., S. 568.
[26] Ebd., S. 568.
[27] Vgl. hierzu: Nora Angleys: Organismus als Stoffwechsel und als System. Die Kontaktpunkte von Jonas und Kant. In: www.blogseminar.net: Philosophische Theorien des Lebens. Publiziert am 2. Oktober 2016. Zugriff: 30.01.2017.
[28] Ebd.
Sehr gelungen und wichtig finde ich die Unterscheidung von Zweckhaftigkeit und der Fähigkeit, sich Zwecke zu setzen von Beginn an.
Schön wäre es noch, die vielen faktischen Hauptsätze eindringlicher zu verbinden und so etwas den Anschein zu vermeiden, sehr nah am Text zu sein.
Ansonsten vielen Dank für den hochinformativen Artikel.
Ich finde den Artikel sehr übersichtlich und informativ, da er viele Aspekte von Jonas Theorie verständlich wiedergibt! Die Unterscheidung von Stofflichkeit und Lebender Materie hat mir besonders gefallen. Nicht da, dass der beste Teil ist, sondern weil das für mich spannend ist.
Eine Frage hätte ich bezüglich des Entstehens von Leben. Für Jonas ist ja anscheinend der Übergang vom rein Stofflichen ins Lebendige ein „unzugängliches Werdegeheimnis“. Gleichzeitig schreibst du „Leben sei die Wahl seiner selbst gegen das Nichtsein“. Mir scheint es so zu sein wie du es am Ende andeutest, dass bei Jonas die Wahl an-sich Entstehungsgrund für Leben sein müsste, oder? Probleme werden hier aber bei vielen Beispielen ersichtlich, z.B. die Geburt eines Kindes. Ab wann ist ein Embryo keine reine Stofflichkeit mehr? Ab wann lebt es? Ab wann hat es die Wahl sich gegen das Nichtsein zu äußern(Das scheint mir vor allem ein separater Schritt zu sein!) ?
Ich kann zu Hans Jonas‘ Theorie des Lebens folgendes Buch (eine Münchner Dissertation) empfehlen:
Johanna Henrich: Strategie Zukunft und Welt : zur Bedeutung eines ontologischen Begründungskonzeptes nachhaltigen Handelns und Verantwortens. Frankfurt am Main, Lang, 2015. Signatur: 0100/CI 3283 H518