Nietzsche: Herrenmoral

Nietzsche unterzieht die Vorstellung universal gültiger Moral der kritischen Prüfung. Stattdessen seien Moralvorstellungen abhängig von der Kultur, die sie vertritt. Die Begriffe des „Guten“ oder „Bösen“ werden somit zu einem anthropologischen (statt einem theologischen) Problem. Dennoch kann das Projekt jede Moral als Version, und damit Normativität als pluralistisch zu beschreiben, eine neue Sichtweise auf die philosophische Debatte des Übergangs von Sein zum Sollen eröffnen. Verschiedene Formen des Sollens sind so nicht mehr als Strategien des Seins.

Nietzsche glaubt in den verschiedenen Moralsystemen zwei Grundtypen zu erkennen: Herren- und Sklavenmoral. Dabei ist die Herrenmoral zwar in Abgrenzung zu der des Sklaven zu beschreiben, dieses Verhältnis jedoch ist kein dialektisches. Die Herrenmoral beschreibt Nietzsche als sowohl logisch als auch zeitlich vorangestellt, ihre Existenz ist von der Sklavenmoral weder abhängig noch abgeleitet. Anders als der Herr der Hegelschen Herr-Knecht Dialektik verliert Nietzsches „Herr“ auch ohne „Sklaven“ nicht an Bedeutung. Die Herrenmoral beruht auf der aristokratischen Wertgleichung („gut = vornehm = mächtig = schön = gottgeliebt“) (GM S.267). Diese ist  Ausgangspunkt Nietzsches genealogischen Verfahrens, während sich die Sklavenmoral erst nachrangig als Umwertung der Werte aus ihr ergibt. Den Prozess der Umwertung nennt Nietzsche „Sklavenaufstand in der Moral“.

Werte der Herrenmoral

Die ursprüngliche Korrelation des Begriffs „gut“ mit „vornehm“ oder „edel“ erstreckt sich nach Nietzsche auf ökonomische wie seelische Bereiche gleichermaßen. Diese Werte entstehen im Falle der Herrenmoral aus einer spontanen, authentischen Selbstbeschreibung heraus. Der Herr also setzt aktiv Werte, und er setzt sich selbst als den größten Wert. Die Sprache selbst wird hier zur Machtausübung des Herrschenden. Das impliziert eine Betonung der Aktivität als wertvoll. Dieser lebensbejahenden Haltung ist es zudem zuzuschreiben, dass das Moralsystem der Herrenmoral auf moralische Unwerte (in erster Linie das Attribut „böse“) verzichtet. Dem Begriffspaar „gut“ und “böse“ der Sklavenmoral stellt die Herrenmoral ein „gut“ und (erst nachgestellt, zufällig und nur in Abgrenzung) „schlecht“ entgegen. Dabei ist „gut“ gleichbedeutend mit dem griechischen agathos, schließt also sowohl ein moralisches, als auch praktisches oder ästhetisches Urteil mit ein. Zudem ehrt die Herrenmoral Mut und Aktivität, unabhängig von eigenem Vorteil. So gebührt selbst dem (ebenbürtigen, starken) Feind Anerkennung statt Verachtung.  Die Frage, welcher Aggressor Furcht erregte, würde also die Herrenmoral mit „dem Guten“, die des Sklaven mit „dem Bösen“ beantworten. Auch an Uneigennützigkeit als Wert ist die spontane Selbstbeschreibung von Nietzsches Herren als „gut“ nicht gebunden.

Der Herr der Herrenmoral

Um den Herren (im Sinne des Trägers der Herrenmoral) zu beschreiben, greift Nietzsche auf die Metaphorik eines Raubtiers zurück.[1] Der Herr agiert ebenso natürlich, authentisch und ungezügelt. Demnach, so Nietzsche, kann dem Herren seine Stärke und deren Manifestationen ebenso wenig zum Vorwurf gemacht werden, wie dem Raubtier die Jagd. Mehr noch, das Ausleben der Stärke und Macht ist konstituierend für die Figur des Mächtigen, „der [unabhängige, abwägende, moralisch verantwortliche] Täter ist zur Tat nur dazu gedichtet“ (GM S.279).  Jede Machtäußerung also ist in ursprünglichstem Sinne authentisch. Dies macht jede Anstrengung, die Konsistenz der Herrenmoral aufrecht zu erhalten obsolet. So erklärt sich, dass Klugheit oder Gedächtnisleistung für die Herrenmoral nicht existenzbedingend sind. Ein solcher Herr wirkt naiv, wenn auch auf eine glückliche fast kindliche Art. Da der Herr (im Gegensatz zum Sklaven) nicht an seinem Dasein leidet, entfällt das Bedürfnis, Glückseligkeit in ein Jenseits zu verschieben. Religiosität ist in der Herrenmoral also nicht enthalten. Derr Herr ist damit zudem Vertreter der Kriegerkaste in Abgrenzung zur Priesterkaste der Sklavenmoral.

Sowohl Machtausübung als auch Desinteresse an allem „schlechten“, „pöbelhaften“[2], sind integraler Teil der Herrenmoral. Deshalb spricht Nietzsche die aktive, selbstbejahende Rolle in Wertsetzung und Lebensführung in historischer Betrachtung vor allem den tatsächlichen (ökonomischen und politischen) Herrschern zu. Dennoch beschreiben Begriffe wie Herr oder Sklave eher „psychosoziale Formen der Kraftäußerung“[3],  als machtpolitische Positionen.

Fazit

Nietzsche hält die Herrenmoral für der Sklavenmoral prinzipiell übergeordnet. Während diese die überschäumende Aktivität als Ideal kultiviere, resultiere jene in letzter Konsequenz in einem „Rückgang der Menschheit“ (GM S.276). Nur die Herrenmoral kann aus der natürlich-authentischen Selbstbejahung ihrer Träger heraus Objektivität beanspruchen. Dennoch beobachtet Nietzsche eine Gegenwart, in der die Herrenmoral, die Stärke und Machtäußerungen zu ihren Werten zählt, von der jüdisch-christlichen Sklavenmoral weitestgehend verdrängt wurde. Nietzsches Argumentation für eine Herrenmoral ist also weniger absolut als situationsbedingt (d.h. als Ausgleich zur gegenwärtigen Übermacht der Sklavenmoral) zu betrachten. Nun bleibt noch zu erwähnen, dass nach Nietzsche die beiden Grundtypen der Moral weder in einer Gesellschaft noch in einem Menschen in Reinform auftreten.

Literatur:

  • Friedrich Wilhelm: Grundlegung der Moral. In: Colli. Giorgio; Montinari. Massimo (Hrsg.). Kritische Studienausgabe. 1988
  • Alfons: Lesarten der Philosophie Nietzsches: ihre Rezeption und Diskussion in Frankreich, Italien und der angelsächsischen Welt 1960-2000. Walter de Gruyter, 2003
  • Henning (Hrsg.): Nietzsche Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Metzler, JB. 2000
  • phil-fak.uni-duesseldorf.de (aufgerufen am 23.1.17)

[1] vgl. GM S.280: „damit gewinnen sie [Sklaven] ja bei sich das Recht, dem Raubvogel es zuzurechnen, Raubvogel zu sein…“

[2] Nach Nietzsche besteht zwischen Herren und Sklaven ein „Pathos der Distanz“(JGB), der das Gefühl der natürlichen Überlegenheit der Herren beschreibt und ihnen erlaubt, autonom Werte zu setzen.

[3] Gemeint sind damit psychologische Faktoren (besonders Eigen- und Fremdwahrnehmung), die die Art der Macht oder Kraftausübung bestimmen, betrachtet unter dem Aspekt ihrer sozialen Bedingtheit. Im Falle von Nietzsches Herrenmoral also eine Selbstwahrnehmung als starker, mächtiger Akteur, die es erlaubt, seine Kraft in tatsächlichen Handlungen (anstatt der künstlichen Umwertung von Moralbegriffen) zu äußern. vgl. Reckermann.Alfons: Lesarten der Philosophie Nietzsches: ihre Rezeption und Diskussion in Frankreich, Italien und der angelsächsischen Welt 1960-2000. Walter de Gruyter, 2003. S. 204

Kommentare

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  • Die Gegenüberstellung von Herren und Sklavenmoral ist sehr einleuchtend. Besonders Logik und Wortwahl gefallen mir sehr gut.

    Eine Frage, die mir jedoch in den Sinn gekommen ist, wäre: was rechtfertigt, dass das aktive Wertsetzen gleichzeitig das Gute ist, außer der Voraussetzung, dass das Nicht-Wertsetzen gegenüber Äußerem den Guten inkommensurabel und daher unabhängig macht?

  • Bezüglich der Gegenüberstellung von Herren und Sklavenmoral kann ich mich Katharina nur anschließen. Der Artikel ist strukturiert und verständlich verfasst ohne durch die Gegensatz-Typisierung die Inhalte in ihrer Komplexität zu reduzieren.

    Die von Katharina beigefügte Frage, stellt sich mir auch immer wieder. Ich denke, dass eine mögliche Antwort für das „Gut-Sein“ der Herrenmoral bereits am Ende des Wiki-Artikels mit dem Begriff „Lebensführung“ angedeutet wurde.
    Im Gegensatz zur reaktiven Sklavenmoral setzt die Herrenmoral nicht nur aktiv und unabhängig Werte, sondern entzieht sich durch eben diesen Zustand der so genannten „Zähmung“ der Skalvenmoral, die allgemein angewandt in einen Nihilismus dem Leben gegenüber führen kann. Nitzsche schreibt dazu: „Wir sehen heute Nichts, das größer werden will, wir ahnen, dass es immer abwärts, abwärts geht, in’s Dünnere, Gutmütigere, Klügere, Behaglichere, Mittelmäßigere […]. Der Anblick des Menschen macht nunmehr müde – was ist heute Nihilismus, wenn er nicht das ist?… Wir sind des Menschen müde…“ (GM, Erste Abhandlung: Abschnitt 12) Ich denke, dass Nietzsche mit der zitierten Stelle nicht nur formal die Autarkie der Herrenmoral, sondern ex negativo das ihnen zugeordnete Vertrauen und die Bejahung des Lebens und der Lebensführung im Unterschied zum Rechtsgefühl (dem Ressentiment) der Sklavenmoral, hervorhebt. Allerdings ist auch diese Überlegung vom Wert des aktiven Wertsetzen nicht zu trennen.

  • Ich muss mich ebenfalls anschließen: Dieser Wiki-Artikel liest sich sehr gut und gibt einen umfassenden Überblick über Nietzsches Begriff der Herrenmoral. Je mehr ich aber darüber nachdenke, desto mehr drängt sich mir die Frage auf, inwiefern eine Mobilität zwischen Herren- und Sklavenmoral für ein Individuum möglich ist?
    Interessant fände ich hier auch den aktuellen Bezug und die Anwendung auf die heutige Gesellschaft: Wenn die Sklavenmoral eine Moral der Lebensverneinung ist, die sich unter anderem aus Unterwerfung definiert, stellt sich mir die Frage ob die Depression als „Volkskrankheit“ nicht der ultimative Ausdruck der Popularität eben dieser Lebensverneinung ist. (Die Depression ist natürlich eine ernstzunehmende Krankheit, die hier nicht pauschalisiert werden soll, da ihre Ursachen und Wirkweisen vielfältig sind, aber für diesen Gedankengang möchte ich mich auf die Symptomatik der Ohnmacht und Antriebslosigkeit beziehen)

    Diese Synthese mag vielleicht makaber klingen, aber: Derzeit wird in Deutschland von vier Millionen Depressiven ausgegangen, die World Health Organisation schätzt darüber hinaus, dass dieses Leiden 2020 neben Herz- und Gefäßkrankheiten die häufigste Krankheitsursache sein wird. (Bundesministerium für Gesundheit 2015).
    Ich lehne diese Gedankenzüge vor allem an die Thesen von Alain Ehrenberg an, welcher diese Zunahme der Depression durch die Überforderung des modernen Menschen erklärt: Musste man sich früher „bloß“ unterwerfen, müssen wir heute eigenverantwortlich Entscheidungen treffen und sehen uns selbst in der Verantwortung unser Leben zu leiten. Eben diese Macht und Möglichkeiten führen zu überhöhter Eigenliebe (Das Ich rückt gänzlich in den Fokus und Vordergrund des (Er-)Lebens) und damit zu Erwartungen an uns selbst, die wir nicht erfüllen können, weswegen wir depressiv werden.
    Auch wenn zwischen Nietzsches und Ehrenbergs Gedanken mehr als ein Jahrhundert liegt und die Thesen sich auf den ersten Blick widersprechen: Wäre es in Anlehnung an meine erste Frage nicht möglich, dass der Wandel von einer Sklaven- zur Herrenmoral auf gesellschaftlicher Ebene eben diese Depression hevorruft? Dass „Sklaven“ depressiv werden, wenn sie die Möglichkeit haben zu „Herren“ zu werden, weil die äußeren Umstände die Chance erhöhen für „Ausgleich“/Gleichheit/Gerechtigkeit zu sorgen?

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