Protokoll Jonas II vom 16.01.2017

Alles Lebendige ist schwach normativ – diese These könnte Jonas vertreten. Wenn wir uns für etwas verantwortlichfühlen, impliziert es, dass das Lebendige selbst schon normativ ist. Das Lebendige setzt sich Zwecke und verfolgt sie(Teleologie), was eine Form des Sollens darstellt. Das Lebendige ist somit ontologisch zweckhaft; in ihm ist schon einSollen verfasst. Inwiefern gelingt es Jonas, über ein solches Zweckdenken auch die Moralität zu begründen? Das istproblematisch, denn die Normativität finden wir schon bei ganz einfachen Organismen und am Ende gelangen wir zuder Moralität bei den Menschen. Welche Zwecke ermöglichen sie uns? Kann man sie aus der Natur heraus erklären?Das eher nicht, denn der Wert einer Sache liegt in dem Zweck, in dem Gut selbst.Nach Moore ist das Prädikat „gut“ nicht mehr in weitere, basalere Bestandteile zerlegbar. „Gut“ bei Jonas ist dieFähigkeit sich Zwecke zu setzen – das Gute lebt im Zweck. Hier wird also versucht, „Gut“ über andere Eigenschaften zubestimmen (Gut wird über das Vermögen der Zwecke definiert). Wenn Jonas sagte, der konkrete Zweck ist das Gute -dann beginge er auch den naturalistischen Fehlschluss.

„2. […] In der Fähigkeit, überhaupt Zwecke zu haben, können wir ein Gut-an-sich sehen, von dem intuitiv gewiss ist, dass es aller Zwecklosigkeit des Seins unendlich überlegen ist. Ich bin mir nicht sicher, ob dies ein analytischer oder syntethischer Satz ist […].“ (154)

 Wenn Jonas sagte, im Zweck überhaupt können wir das Gute an sich sehen, wäre es auch der naturalistischeFehlschluss. Er befindet sich aber auf der Metaebene und sagt: in der Fähigkeit, sich Zwecke zu setzen. Aus derTatsache, dass das Leben sich Zwecke setzt, also einen Wert hat (ist diese Annahme deskriptiv?), folgt: es istschützenswert. Das scheint auch plausibel zu sein.  Ist „Gut“ im Zitat schon ein Wert? Dann gibt es die schon frühererwähnte Unhintergehbarkeit des Zweckes – wir gehen aus dem Zweck nicht mehr heraus:

„[…] aber was er an Selbstevidenz besitzt, dahinter lässt sich schlechterdings nicht zurückgehen. Es lässt sich ihm nur die Lehre vom Nirvana entgegenstellen, die den Wert des Zweckhabens verneint, aber dann doch wieder den Wert der Befreiung davon bejaht und seinerseits zum Zweck macht.“(154)

 Deskriptiv ist die Aussage: das Leben hat einen Wert. Jonas, als ein Vordenker der Verantwortungsethik vertritt dieThese, wir müssen für die zukünftigen Generationen und für die Natur sorgen. Welchen ontologischen Status haben siedenn? Faktisch sind sie inexistent, nur der Potenz nach sind sie da. Warum müssen wir uns der Natur gegenüber soverhalten? Schließlich töten wir die Tiere und vernichten die Pflanzen, um selber weiter zu existieren (aber nicht nurdeswegen). Stellen wir hier verschiedene Niveaus/Ebenen von Zweckhaftigkeit gegenüber? Ist menschlicheZweckhaftigkeit wichtiger als andere? Und das dann deswegen, weil sie noch reflexiver ist? Dann könnten wir aberkeine Verantwortungsethik betreiben, denn das wären die Gründe, warum wir uns erklären könnten, warum wir die Natur zerstören. Woher bekommen wir also diese starke Normativität das Leben zu schützen? In der ökologischen Welt, nach Jonas, sind alle Sphären (menschliche, tierische und pflanzliche) miteinander verbunden.

„3. […]In der Zielstrebigkeit als solcher, deren Wirklichkeit und Wirksamkeit in der Welt nach dem vorigen (Kapitel 3) als ausgemacht gelten soll, koennen wir eine grundsätzliche Selbstbejahung des Seins sehen, die es absolut als das Bessere gegenüber dem Nichtsein setzt. In jedem Zweck erklärt sich das Sein für sich selbst und gegen das Nichts. Gegen diesen Spruch des Seins gibt es keinen Gegenspruch, da selbst die Verneinung des Seins ein Interesse und einen Zweck verrät. Das heisst, die blosse Tatsache, dass das im Sein nicht indifferent gegen sich selbst ist, macht seine Differenz vom Nichtsein zum Grundwert aller Werte, zum ersten Ja überhaupt. Diese / Differenz liegt also nicht so sehr im Unterschied eines Etwas vom Nichts (welcher bei Gleichgültigkeit des Etwas nur der selber gleichgültige Unterschied zwischen zwei Indifferenzen wäre), sondern im Unterschied eines Zweckinteresses überhaupt von der Indifferenz, als deren absolute Form wir das Nichts ansehen können.[…]“ (155f.)

Hier geht es um das Lebendige und die tote Materie. Jonas scheint hier zu sagen: als das Nichts dürfen wir die tote Materie ansehen. Ein Stein ist indifferent und hat kein Interesse. Das Natürliche wäre das Zweckinteresse. Das assoziiert man mit „Sinn vom Sein“ im Sinne von Heidegger, dem Lehrer von Jonas und es klingt fast existenzialistisch. Ein Stein ist trotzdem seiend, erkennbar und anfassbar. Ist ein Nichts etwas Indifferentes, was keine Zwecke verfolgt im Verständnis von Jonas? Übertragen wir unseren Sinn auf die Gegenstände (Heidegger)? Eine innere Bewegungsrichtung muss erkennbar sein, die Indifferenz des Steins ist die Wertlosigkeit. Der Stein ist die absolute Form der Indifferenz, ihr Inbegriff. Jonas depotenziert ontologisch die tote Materie. Der Stein ist das Produkt des Interesses der Natur, aber nicht der Grund dafür. Kann man einem Baum oder Stein „Interesse“ unterstellen? Interesse scheint ein Bewusstsein vorauszusetzen. Ein Baum hat den Zweck im Sommer möglichst viel Photosynthese zu machen und im Winter zu überwintern. Das ist sein teleologischer Selbsterhaltungstrieb. Auch wenn ein Tier an seiner Rinde zu nagen anfangen würde, würde der Baum eventuell zum Selbstschutz Giftstoffe produzieren. Somit sind Organismen geschlossene Strukturen, die symbiotisch sind. Der Baum hat eine schwache Form von Subjektivität: es findet ein Austausch zwischen ihm und der Umwelt statt. Jonas entwickelt die Metaphysik des Seins und des Nichts, sollte aber auch konkreter werden!

„4. Das Ja des Lebens: empathisch als Nein zum Nichtsein. Im organischen Leben hat die Natur ihr Interesse kundgegeben und in der ungeheuerlichen Mannigfaltigkeit seiner Formen, deren jede Art zu sein und zu streben ist, fortschreitend um den Preis entsprechender Vereitelung und Vernichtung befriedigt. Der Preis ist notwendig, da jeder Zweck nur auf Kosten anderer Zwecke verwirklicht werden kann. Die generische Mannigfaltigkeit ist selber eine solche Auswahl, von der sich unmöglich sagen lässt, ob sie immer die „beste“ war, deren Erhaltung aber gewiss ein Gut gegenüber der Alternative der Vernichtung oder Verkümmerung ist. Aber mehr noch als in der Extensität des generischen Spektrums manifestiert sich das Interesse in der Intensität der Selbst /Zwecke der Lebewesen selber, in denen der Naturzweck zunehmend subjektiv, das heisst dem jeweiligen Vollzieher als der seine zueigen wird. In diesem Sinne ist jedes fühlende und strebende Wesen nicht nur ein Zweck der Natur, sondern auch ein Zweck an sich selbst, nämlich sein eigener Zweck. 2. Und eben hier, durch den Gegensatz des Lebens zum Tode, wird die Selbstbejahung des Seins empathisch. Das Leben ist die explizite Konfrontation des Seins mit dem Nichtsein, denn in seiner konstitutionellen, durch die Notwendigkeit des Stoffwechsels gegenüber Bedürftigkeit, der die Erfüllung versagt bleiben kann, hat es die Möglichkeit des Nichtseins als seine ständig gegenwärtige Antithese, nämlich als Drohung, in sich. Der Modus seines Seins ist Erhaltung durch Tun. Das Ja allen Strebens ist hier verschärft durch das aktive Nein zum Nichtsein. Durch das verneinte Nichtsein wird das Sein zum positiven Anliegen, das heisst zur ständigen Wahl seiner selbst. Das Leben als solches, in der wesenseigenen Gefahr des Nichtseins, ist Ausdruck dieser Wahl. Also ist es, nur scheinbar paradox, der Tod, das heisst das Sterbenkönnen, und zwar als jederzeitiges Sterbenkönnen, und dessen ebenso jederzeitige Hinhaltung im Akt der Selbsterhaltung, was das Siegel auf die Selbstbejahung des Seins setzt: diese wird hierdurch zu geeinzelten Anstrengungen von Seienden.“ (156f)

Empathisch bedeutet mit Nachdruck erkennbar, betont. Das ist die Subjektivierung der Natur. Die Natur hat eine Einheit und etwas, dass einheitliches Interesse kundtut. Jedes fühlende Wesen ist ein Zweck an sich, genau wie jedes sterbende Wesen – so sieht es Jonas. Der Tod ist der Hintergrund zu der Bejahung des Lebens. Eines stirbt, damit das Andere geboren werden kann. Es ist ein Teil des Naturkreislaufes. In der unorganischen Welt gibt es auch sehr komplexe Strukturen: ein Kristall ist auch ein komplexer Organismus an sich. Ein Diamant hat den Wert, den Menschen ihm zuschreiben. Der Zweck an sich ist das Lebendige angeordnet in das grosse Komplexe, wo alles einander die Hand reicht. Aus dem Vermögen sich Zwecke zu setzen erfolgt schon ein Gut. Eine besondere Bedeutung (freiheitstheoretisch) bekommt es, wenn das Zwecksetzen auf menschliche Freiheit angewendet wird. Moralität kann nie sich selbst zum Zweck haben – Jonas vertritt hier eine andere Auffassung als Kant (bei dem galt die Achtung der Vernunft). Das Gute ist eine Sache in der Welt und die Sache der Welt. Die Moral ist etwas innerweltliches und nicht übersinnlich-überzeitlich zu erkennen. Das Gute müssen wir, laut Jonas, in der Welt und in der Zeit seiner Zweckhaftigkeit sehen.

Kommentare

Dieser Beitrag hat momentan 2 Kommentare

  • tolles Protokoll. Ich habe noch eine Frage, und zwar: Inwiefern ist es positiv zu bewerten, dass wir uns Zwecke setzen können? Wird hier nicht aus dem ist Zustand gefolgert, dass dieser gut sein muss?

  • Ein super Protokoll, das die Theorie Jonas wunderbar wiedergibt. In Jonas Theorie ist mir aber unklar geblieben, aus welchem Grund er einen Unterschied zwischen Leben und Materie im Sinne der Zwecksetzung macht. Intuitiv scheint dies zwar richtig zu sein, doch aus logischen Gründen kommt beim Übergang der Materie zum Leben nicht ohne ein „Mysterium“ aus. Ich schlage vor hier zum Test einmal davon auszugehen, das auch Materie (Kräfte usw.) Zwecke verfolgt. Das Universum, das ich aus Materie, Kräften usw. konstituiert sehe, hat also anscheinend beschlossen Leben zu entwickeln. Der Mensch (auch andere Formen die wir üblicherweise unter dem Begriff Leben verstehen) ist nun das Universum, das sich selbst betrachtet. Der Mensch als Mittel zum Zweck seiner Selbsterkenntnis.
    Ein kleines Kind begreift an einem Zeitpunkt seines Lebens, das es selbst existiert. Es erkennt sich im Spiegel usw.. Obwohl das Kind zum Zweck der Überprüfung seiner neuen Erkenntnis sich auslöschen könnte, wird dies nicht geschehen, aus Interesse an sich selbst.
    Die Menschheit/Leben wäre hier also Erkenntnisweg und Erkenntnisgrund des Universums seiner selbst in einem. => ein Erkenntniszweck?

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