Protokoll zur Sitzung am 09.01.2017 Hans Jonas Das Prinzip Verantwortung

Es wurden Auszüge aus einem Werk von Hans Jonas mit dem Titel Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation behandelt, wobei seine Theorie des Verhältnisses von Sein und Sollen, besonders sein Begriff des Guten, im Zentrum stand.

Das Werk enthält eine Ergänzung oder Transformation des Kategorischen Imperativs von Kant, wo die Maximen und die Willensgrundsätze auf ihre Widerspruchsfreiheit geprüft werden – daraus ergibt sich dann, was gut und was böse ist. Jonas versucht das Gute anders zu verstehen (nicht nur logisch als eine widerspruchsfreie Struktur) und für die zukünftigen Generationen verständlich zu machen. Wir alle müssen kollektiv die Verantwortung tragen und zwar dafür, was mit den Atomkraftwerken und ihren Produkten, der Ökologie und der Umweltethik auch in hundert Jahren passiert. Im Gegensatz zu Kant bezieht Jonas also eine zeitliche, zukunftsgerichtete Perspektive in seine Ethik mit ein.

Was kritisiert Jonas an Kant? Wenn jeder wollen würde, dass die Menschheit aufhört zu existieren, dann würde das zum allgemeinen Gesetz werden. Die Nichtexistenz der Menschheit ist denkbar, wenn es keine Menschen gibt. Das ist der Fall, wo es nicht unmoralisch begründet ist. Wir handeln jetzt auf Kosten der nächsten Generationen und müssen auch daran denken, was mit diesen passieren wird? Beim kategorischen Imperativ setzt die Handlungsmaxime eine Allgemeinheit voraus und das kritisiert Jonas.

Laut Kant ist die der Mensch Zweck an sich. Die Selbstzweckformel lautet: Menschen sollen nicht ausschließlich als Mittel genutzt werden. Hat dieser Satz allgemeine Geltung? Offensichtlich nicht? Eine neue Prämisse ist, das Leben an sich soll erhalten werden: es hat einen Wert an sich und ist schützenswert. Jonas geht hier so weit, dass das Leben generell so wichtig ist. Warum hat das Leben denn einen Wert an sich? Aus seinen Zitaten geht hervor: im Leben selbst ist schon das Gute enthalten.

Die Leitfragen der Sitzung lauteten. „Inwiefern ueberbrückt Jonas die Kluft zwischen Sein und Sollen? Worin verortet er das Sollen bzw. den Wert einer Sache? Inwiefern begeht Jonas einen naturalistischen Fehlschluss nach Moore? Es ist ein Paradefall dafür. Jonas vertritt hier einen der interessantesten Ansätze, wie wir das Sein und Sollen gemeinsam denken können. Würde Moores Kritik hier zutreffen? Und, inwiefern ist Jonas‘ Ansatz systematisch überzeugend?

 

„Das „Gute“ oder den „Wert“ im Sein gründen heisst die angebliche Kluft von Sein und Sollen überbrücken. Denn das Gute oder Wertvolle, wenn es dies von sich her und nicht erst von Gnaden eines Begehrens, Bedürfens oder Wählens ist, ist eben seinem Begriffe nach dasjenige, dessen Moeglichkeit die Forderung nach seiner Wirklichkeit enthält und damit zu einem Sollen wird, wenn ein Wille da ist, der die Forderung vernehmen und in Handeln umsetzen kann. Wir sagen also, dass ein „Gebot“ nicht allein von einem gebietenden Willen, zum Beispiel eines persönlichen Gottes, ausgehen kann, sondern auch vom immanenten Anspruch eines an-sich-Guten auf seine Wirklichkeit. An – sich – sein des Guten oder Wertes heisst aber, zum Bestand des Seins zu gehören (nicht notwendig damit zur jeweiligen Aktualität des Daseinenden) womit Axiologie ein Teil der Onotologie wird.“ (153)

 

Was ist letztendlich das Programm, was er hier entwirft? Die Werte sind in das Sein eingeschrieben – es ist eine autonomische Selbstgesetzgebung (das Leben selbst ist autonom). Ein Sein setzt sich einen Zweck und der Zweck ist das Gute. Dieser Zweck muss nicht in jedem Moment verwirklicht sein. Laut Jonas geben sich die Organismen, indem sie Zwecke verfolgen, ein Gesetz. Das ist problematisch, denn man könnte sagen, das ist das Naturgesetz, was sie sich geben. Schon, aber dennoch: sie stehen unter einem Gesetz, das sie sich selbst geben – es ist ihr Wesengesetz.

Wenn es erfüllt wird, geht es den Tieren gut. Wenn ein Vogel ein Nest gebaut hat, wird er sich fortpflanzen können und tut etwas fuer die nächste Generation. Das ist auch ein Aspekt, den wir bei Philippa Foot kennen lernen werden  – natural goodness.

Nach Kant ist die Autonomie selbstreflexiv, auch das Sittengesetz. Als Vernunftwesen können wir uns immer auf das Sittengesetz beziehen, wir können ihm noch zuwiderhandeln. Wir erkennen auch, dass es unser Gesetz ist. Das  können die Tiere nicht. Sie reflektieren nicht über das Naturgesetz und nehmen keine Stellung dazu. Jedoch ist ein lebendiger Organismus autonom nach Jonas. Es setzt sich Zwecke aus sich selber heraus. Vielleicht nicht bewusst – aber gut ist es, dass das Ziel erreicht wird. Hier besteht der Anspruch für Jonas: alleine die Tatsache, dass etwas sich einen Zweck setzt, ist das prinzipiell Gute für den Organismus.

Die Axiologie von Jonas ist das Sein und Sollen. Hier koinzidieren Sollen und Sein.

Warum will Jonas unbedingt ein Sollen konstruieren? Wozu braucht er es? Seine Konklusion ist: wir sollen die Menschheit bewahren. In dieser zweckhaften Verfasstheit des Lebens äussert sich schon ein Wert an sich, und die Herausforderung von diesem Wert an sich des Lebens ist es, zur Moralität hinzukommen. Weil Axiologie noch sehr, sehr allgemein ist und keine Moralität ist. Daraus könnten wir noch ein Nietzscheanisches Modell herleiten. Der Wert wird so gesetzt, dass nur die Aristokratie gut und stark ist. Nur die Starken sind wichtig und die Schwachen sollen darben. Das wäre auch Axiologie, begründet aus der Natur –  Nietzsche leitet das Sollen aus dem Sein her. Auch die Normativität gewinnt er aus der Natur – der Stärkere überlebt.

Ein gutes Beispiel ist Nirvana – die Selbstauslöschung – ist das auch ein Zweck? Ja – wir kommen also aus der Zwecksetzung also nie heraus. Auch wenn wir wollen, dass es kein Leben gibt, bestätigen wir das Leben selbst, indem wir uns den Zweck des nicht-Zweckes setzen.

Das Sollen ist nach Jonas im Sein fundiert und ergibt sich aus dem Sein.

 

„1. „Gut“ oder „Schlecht“ relativ zum Zweck. Indem die Natur Zwecke unterhält, oder Ziele hat, wie wir jetzt annehmen wollen, setzt sie auch Werte; denn bei wie immer gegebenem, de facto erstrebten Zweck wird die jeweilige Erreichung ein Gut und die Vereitelung ein Übel, und mit diesem Unterschied beginnt die Zusprechbarkeit von Wert. Aber innerhalb der vorentschiedenen Zieleinstellung, in der es nur noch um Erfolg oder Misserfolg geht, ist kein Urteil ueber die Guete des Zieles selber möglich und daher über das Interesse hinaus keine Verpflichtung aus ihm herzuleiten. Insoweit also Ziele tatsächlich in der Natur, einschließlich der unsrigen, angelegt sind, scheinen sie keine andere Würde als die der Tatsächlichkeit zu geniessen und/ müssten dann nur nach Stärke ihres Motivierens und vielleicht nach dem Lustertrag ihrer Erreichung (oder Schmerz ihrer Versagung) gemessen werden. Wir könnten dann nur sagen, dass es in ihrem Banne ein besser und schlechter gibt, nicht aber, dass hierin ein Gutes an sich unsere Zustimmung verlangt.“ (153f)

 

Wenn wir die Zwecke wortwörtlich  nehmen, dann haben wir nur die Lust oder Unlust – als die Stärke der Motivation. Das wäre eine Parallele zu Moore’s Kritik: das Gute kann nicht über die Lust bestimmt werden. Wir können die Güte nicht daran bemessen, wie der Lustertrag ist.

Gibt es das Gute an sich? Wenn wir es nur bestimmen über die Lustmaximierung, dann haben wir nicht die erforderliche Allgemeinheit, di Objektivität des Guten. Es war auch der Grund, warum Moore den Utilitarismus abgelehnt hat, da Gut diese Objektivität vorgibt und über die Lustmaximierung nicht gefasst werden kann.

Hier stellt sich die Frage nach der Begründung des Sollens. Das Sollen wird hier zu einer gewissen Universalität, Objektivität. Wenn man nur einen eingepflanzten Zweck sieht, dann reicht es nicht aus, um zum Sollen im starken Sinne zu kommen, um die Normativität zu begründen.

 

„Hat es dann Sinn zu sagen, dass irgendetwas sein soll, gleichviel ob es sein Zustandekommen durch Einfluss auf den Trieb, Instinkt oder Willen schon von selbst betreibt oder nicht? Ein „Gutes an sich“, so sagten wir, wäre ein solches Etwas. Aber bis jetzt hat sich Gut oder Übel erst als Korrelat im voraus vorhandener Zweckausrichtung gezeigt, der es überlassen bleibt, eben jene Macht über den Willen auszuüben, die in seinen „Entscheidungen“ – ihrem Ergebnis – ex post facto zutage tritt. Der eingepflanzte Zweck setzt sich durch und bedarf keines Sollens, könnte es auch an sich gar nicht begründen. Bestenfalls bediente er sich der Fiktion eines „Sollens“ als Mittel seiner Macht.“ (154)

 

Das nächste Thema ist die Unhintergehbarkeit des Zwecks, aber auch der unterstrichene Satz im Zitat. Die Zwecklosigkeit des Seins scheint hier die Materie zu sein. Wie konzipiert sich das Leben aus der Materie? Müsste dann die Materie nicht rudimentär zum Zweck angelegt sein? Jonas antwortet darauf, das ist ein Mysterium (hier Verweis auf die Materialien vom Blog des letzten Semesters). Ist schon in der Materie ein Selbstzweck? Wie kommen wir von der Materie zum Leben? Ist das ein analytischer oder synthetischer Satz, dass in der Fähigkeit überhaupt Zwecke zu haben, ein Gut an sich liegt?

„2. Zweckhaftigkeit als Gut – an- sich. Aber gilt, was für den bestimmten Zweck gilt – dass nämlich seine Faktizität das erste und die Geltung von „gut“ oder „schlecht“ darauf bezüglich das zweite ist, von jenem zwar determiniert (de facto), aber nicht legitimiert (de jure) – auch für „Zweckhaftigkeit“ selber als ontologischen Charakter eines Seins? Hier liegt, so scheint mir, die Sache doch anders. In der Fähigkeit, überhaupt Zwecke zu haben, können wir ein Gut-an-sich sehen, von dem intuitiv gewiss ist, dass es aller Zwecklosigkeit des Seins unendlich überlegen ist. Ich bin mir nicht sicher, ob dies ein analytischer oder synthehischer Satz ist, aber was er an Selbstevidenz besitzt, dahinter laesst sich schlechterdings nicht zurückgehen. Es lässt sich ihm nur die Lehre vom Nirvana entgegenstellen, die den Wert des Zweckhabens verneint, aber dann doch wieder den Wert der Befreiung davon bejaht und seinerseits zum Zweck macht.“(154 f.)

 

Es ist bei Jonas jedoch keine Rede vom Lebendigen und Nichtlebendigen, sondern nur von Sein und Nicht-Sein. Was meint er hier damit? Sein scheint sich hier selbst zu bejahen. Hier gibt es einen Unterschied eines Zweckinteresses von der Indifferenz. Wenn man die Begriffe wie Sein, Sinn, aber vor allem den Satz: „[…] dass es dem Sein um etwas geht…[…]“ berücksichtigt erkennt man eine Anlehnung an Martin Heidegger (Jonas‘ Lehrer): dem Dasein geht es immer um etwas, um sich selbst.

Das Sinnlose können wir eigentlich gar nicht erkennen.

Kommentare

Dieser Beitrag hat momentan 3 Kommentare

  • Die Frage ist, ob Verantwortung den Anspruch der Kollektivität tragen kann oder ob Verantwortung nicht eher den Anspruch der Individualität erfüllt. Unklar bleibt, wie Jonas die These „Wenn jeder wollen würde, dass die Menschheit aufhört zu existieren, dann würde das zum allgemeinen Gesetz werden“ begründet? Mit scheint, dass dieser Gedanke von Un-Existenz des Menschen nicht etwas wesentliches für den Menschen an sich ist. Der Mensch hat einen natürlichen Willen zu leben und sich zu entwickeln, sein Wissen oder die Praxis zu ordnen und zu entfalten. Ein Un-Wille zum Leben ist daher – wie mir scheint – etwas künstliches und von Außen – und nicht vom Menschen an sich – motiviert. Wenn es keine Menschen gibt, dann gibt es auch keine Maximen oder Philosophien und eben auch nicht den Gedanken über die Nichtexistenz der Menschen, daher ist dieser Gedanke irrelevant. Bei Un-Existenz der Menschen, gäbe es keine Instanz die das Handeln und die Verantwortung der Handlung abstrahiert und unter Umständen zu einer moralischen Korrektur plädieren würde. Aus diesem Grund ist mir das Argument über die Nicht-Existenz der Menschheit unklar. Kategorischer Imperativ ist, dass die Handlungsmaxime objektiv und von jedem vernünftigen Wesen als gültig erkannt wird.

    „Praktische Grundsätze sind Sätze, welche eine allgemeine Bestimmung des Willens, die mehrere praktische Regeln unter sich hat. Sie sind subjektiv, oder Maximen, wenn die Bedingung nur als für den Willen des Subjekts gültig von ihm angesehen wird; objektiv aber, oder praktische Gesetze, wenn jene als objektiv d.i. Für den Willen jedes vernünftiges Wesens gültig erkannt wird. (KpV: S. 31)

    Ich finde es daher nicht plausibel, dass Jonas Kant darin kritisiert, denn die Nicht-Existenz der Menschheit kann objektiv und von jedem vernünftigen Wesen nicht als gültig erkannt werden oder gewollt werden.

    Ein weiterer Einwand ist, wie Jonas die These legitimiert „im Leben selbst ist schon das Gute enthalten.“? Es gibt genug auch Böses und Schlechtes in der Welt und im Leben. Mir scheint, dass das Gute durch Selbsterziehung und Überwindung der Trägheit erreicht und aufrecht erhalten werden kann. Ansonsten müssten wir im Paradis leben und dann wäre Kriminalität, Rassismus, Feindschaft etc. etc. uns allen erspart werden können. Das Gute – scheint mir – ist die Schattierung, die die Kultur und Kunst hinterlässt und sich auf unseren Geistern und Seelen dann niederschlägt.

    Ich möchte mit dieser Argumentation nicht zu sehr an der Genealogie der Moral nach Nietzsche anknüpfen, wohl aber andeuten, dass das Gute an sich und das Gute im Leben nicht im Sein, sondern in der Praxis, besser in der Selbsterziehung liegt und dies bedarf der Überwindung der Trägheit.

    • Ich möchte gerne auf den Kommentar Schuanas, genauer den zweiten Einwand, wie Jonas die These „im Leben selbst ist schon das Gute enthalten“ legitimiert, eingehen. Zwar finde ich den Einwand erst einmal nachvollziehbar, allerdings denke ich, dass Hans Jonas davon ausgeht, dass in der Fähigkeit, Zwecke zu haben – bzw. sich überhaupt Zwecke setzen zu können -, ein Gut an sich liegt. Dieses Gut an sich ist jedoch kein moralisches Gut, wozu ich deine Beispiele wie Kriminalität, Rassismus etc. zählen würde, sondern wird als ein Wert an sich verstanden. Diese moralisch schlechten Beispiele richten sich zwar gegen das Leben oder wirken destruktiv, doch bestätigen sie trotzdem das Gute im Leben, das sich durch das Setzen von Zwecken auszeichnet. Selbst eine Zwecksetzung, die das Leben negieren soll, bestätigt es, weil auch das Setzen einer Negation ein Zweck ist.

      Eine begriffliche Nachfrage hätte ich außerdem bezüglich deines letzten Absatzes zu Nietzsche: wenn ich es richtig verstehe, ordnest du die Begriffe „Praxis“ und „Selbsterziehung“ einander zu und nicht „Praxis“ und „Sein“?

  • Zuerst möchte ich erwähnen, dass das Protokoll meiner Meinung nach sehr gut gelungen ist und die wichtigsten Ideen und Anmerkungen widerspiegelt, die auch in der Sitzung besprochen wurden.

    Besonders lobend erscheint mir die Erörterung der „Ergänzung“ zu Kants Kategorischem Imperativ und dem Versuch, das Verständnis von Hans Jonas für das Gute zu verdeutlichen und dies zukunftsorientiert für nächste Generationen zu erweitern.

    Auch eine der Kritiken, die Hans Jonas an Kants Theorien hat, arbeitet das Protokoll sehr gut heraus. So wird der Gedanke gut hervorgebracht, dass die Nichtexistenz der Menschheit dadurch denkbar ist, dass dieses als allgemeines Gesetz geltend werden würde, wenn dies auch jeder will. Jedoch muss ich mich meinem Vorredner anschließen und sehe ebenfalls nicht, wie Hans Jonas den Gedanken verständlich darstellen will. Eher sehe ich einen Widerspruch darin, es als denkbar zu betrachten, das Ziel zu der Nichtexistenz der Menschheit ein allgemeines Gesetz werden zu lassen, wenn es keine Menschen gibt. Jedes vernünftige Wesen würde solch ein Ziel nicht als gültig anerkennen, vor allem nicht, wenn im Leben selbst schon das Gute enthalten sein soll.

    Ich denke es wäre interessant, näher auf diesen möglichen Widerspruch einzugehen.

    Jonas Wille, ein Sollen aus dem Sein zu definieren, wird im Protokoll als einer der zentralen Gedanken vorgestellt und anschließen gut erläutert. Es war für mich interessant und gut zu lesen. Vielen Dank.

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